Unterwegs im wohl berühmtesten Engländer aller Zeiten
Rennfahrer Jacky Stewart und Graham Hill müssen damals in den 1960ern ähnlich begeistert gewesen sein. Remo Thalmann schaltet einen Gang runter. Der Tourenzähler schiesst in die Höhe. Da faucht der Jaguar so richtig. Es klöpft und tätscht. Was für ein Sound. Und dabei hat das ‹Rennen› noch nicht mal begonnen. Wir sind erst auf dem Weg dazu, runter an den Start nach Langwies. Rennwagen für Rennwagen schlängeln sich den Hang hinunter. Unten am Start zeigt sich Langwies in seiner ganzen nostalgischen Farbenpracht – vom blauen Mustang, zum roten Ferrari, zum gelben Fiat. Eindrücklich. Wir dürfen etwas verschnaufen, die Sonne geniessen, Small talken und uns auf den ersten Lauf freuen.
Die Sonne lacht hinter den grünen Tannen hervor, ein Streckenposten schwenkt die Schweizer Fahne. Das Signal zum Start. Es geht los. Remo drückt das Gaspedal durch. Die sechs Zylinder heulen auf. Brachial. Laut. Es drückt einen fest in den bequemen Karbonsitz. Und zieht einem unaufhaltsam die Mundwinkel nach hinten. Mit einem breiten Smile geht’s hoch hinauf nach Arosa. Wir fahren in 60-jähriger britischer Automobilgeschichte, spüren sie in jeder Kurve. Und dann die Aussicht auf die Berge, den blauen Sommerhimmel. Grandios.
Ausgangs der 180-Grad-Kurven – davon gibt’s zwischen Langwies und Arosa einige – drückts dem Ungeübten immer mal wieder den Helm in den Schalensitz, mal links, mal rechts. Man muss sich an die Fliehkräfte erst mal gewöhnen. Wie es sich wohl als Rennfahrer in so einem Auto anfühlte? Mit viel Gefühl zirkelt Remo Thalmann den E-Type mit seiner endlos langen silbernen Schnauze an den Strohballen vorbei. Nach Litzirüti heisst es voll aufs Gas drücken. Die Tachonadel zittert sich auf um die 160 km/h (5500 Umdrehungen pro Minute im dritten Gang). Dann runterschalten, es klöpft wieder gewaltig. Und rein in die nächste Kurve. Kurz vor Arosa geht’s nochmals steil bergauf, wieder eine der berühmten 180-Grad-Kurven. Vom ersten Gang geht’s in den zweiten, dritten Gang im Jaguar Vierganggetriebe. Die Reifen quietschen, aber der E-Type klebt gerade noch so auf dem Asphalt. Von weitem sehen wir die karierte Zielfahne schwenkend, die klatschenden Hände, die jubelnden Gesichter, den Obersee. Noch einmal kurz aufs Gaspedal drücken. Dann rollen wir langsam aus. Der erste Lauf ist geschafft.
Der Jaguar E-Type ist der Inbegriff britischer Automobil-Geschichte. Bis heute gehört das Auto neben Klassikern wie dem Aston Martin DB5, Austin Healey MK3000 oder MG A zu den berühmtesten und beliebtesten Briten. Der E-Type schafft es denn auch regelmässig auf die Kinoleinwand. So fährt in ‹Mr. Bean› genauso wie ‹Austin Powers› sowie Audrey Hepburn und Peter O‘Toole in ‹How to steel a million›. Im März 1961 wurde der Jaguar E-Type erstmals auf dem Genfer Autosalon vorgestellt – vorerst als Coupe, der Roadster folgte später (lustigerweise ist Remo Thalmann auch im März 1961 geboren). Vorerst bestückt mit dem 6-Zylinder-Reihenmotor mit 3.8 Liter Hubraum. Zehn Jahre später lancierte Jaguar die 12-Zylinder-Variante. Jaguar siegte mit dem E-Type auf berühmten englischen Strecken wie Goodwood, Brands Hatch, Silverstone – am 24-Stunden-Rennen in Le Mans reichte es allerdings nie bis ganz nach vorne. Platz 4 war das beste Ergebnis – hinter den damals unschlagbar scheinenden Ferraris.
Jaguars Geschichte beginnt weit vor dem E-Type. Der Motor wurde bereits im 2. Weltkrieg entwickelt – mit zwei obenliegenden Nockenwellen war das damals eine Revolution. Und eine noch grössere Revolution war die Erfindung der Scheibenbremsen von Dunlop in den 1950er-Jahren. Angefangen hat damals alles mit dem C-Type, dann folgte der D-Type – beide waren erfolgreich in Le Mans unterwegs – und dann in den 1960er entstand der E-Type. Graham Hill und Jacky Stuart fuhren zu Beginn erfolgreich damit. Doch es war vorerst ein Serienfahrzeug. Jaguar wollte eine Rennversion. «Ein Fahrer hat einst für Jaguar einen Ferrari 250 GTO gekauft – das Beste, was es damals gab. Er sagte: ‹Studiert das Auto, die Aerodynamik. Warum kann der so viel schneller fahren als wir es können?› Damals klebte man noch händisch Fäden an die Autos und analysierte im Windkanal, wie sich die Fäden bewegen. So versuchte man akribisch, den Jaguar E-Type zu optimieren.»
Was man nicht alles tut, um eine Dominanz zu unterbrechen – oder es zumindest zu versuchen. Der E-Type Lightweight war Jaguars Antwort auf die Ferraris, welche in den 1960ern Le Mans dominierten. 12 Lightweight E-Types wurden damals gefertigt. Aber sie waren zu wenig schnell auf der Geraden von Le Mans. Geschäftsmann und Rennfahrer Peter Lindner aus Deutschland initiierte, dass man doch die Form des E-Types ändern müsse, um schneller zu werden. So erhielt Jaguar den Auftrag, eine windschlüpfrigere Version für ihn zu bauen – eben eine Low-Drag-Version.
Doch das umgebaute Auto hatte keine grossen Erfolge gefeiert, sondern hatte immer wieder mal technische Probleme. Die dunkelste Stunde erlebte der E-Type Low Drag 1964 beim 1000-km-Rennen von Paris. Lindner verlor in einer Steilkurve die Herrschaft über sein Auto – 5 Menschen starben bei diesem Unfall, Lindner war einer von ihnen. Daraufhin verbot der Besitzer von Jaguar, William Lyons, die weitere Produktion von Werksrennfahrzeuge und danach sah man für lange Zeit keine Werksrennwagen von Jaguar mehr.
Remo Thalmanns E-Type ist ein Nachbau eines Lightweights. «Bestandteile gab es immer noch im Jaguar-Werk. Denn obwohl Jaguar offiziell mit dem E-Type keine Rennen mehr fuhr, gab es dennoch Fahrer, die Jaguar-E-Type-Rennwagen wollten. Eine Firma namens Lynx baute dann mein Auto. Leider ist die Firma Lynx immer wieder Konkurs gegangen und somit sind die Unterlagen verloren gegangen. Die Frage kommt immer auf: wurden an meinen Auto Original-Lightweightbestandteile aus dem Lager von Jaguar verbaut oder nicht? Ich weiss es nicht. Ich versuchte mehrmals Unterlagen zu kriegen, doch ich habe nichts herausfinden können», erzählt Thalmann. Auf jeden Fall hat das Auto das originale Jaguar-E-Getriebe und den originalen Motor – aber die Carrosserie wurde bei Lynx von Hand neu in Aluminium gefertigt.
Wie bei so vielen Oldtimern, speziell Sportwagen, ist bereits das Einsteigen ein Erlebnis. So auch beim E-Type. Für einmal ein klarer Vorteil, wenn Fahrer und Beifahrer ‹nur› 1.77 Meter gross sind. Einmal drin, blickt man auf puristische englische Handwerkskunst: schwarzes Leder mit gezielten Nadelstichen im Karree-Muster in der Mittelkonsole, das hölzerne Lenkrad mit bronzefarbenem Jaguar, der beige Dachhimmel. Die Handbremse befindet auf Seite des Beifahrers, also links. Denn man fährt natürlich in diesem Engländer rechtsgesteuert. Das Wappen Grossbritanniens ziert das Ablagefach des Beifahrers, dort wo bei modernen Autos der Airbag zu finden wäre. Die Geschwindigkeit misst Remo Thalmann per Smartphone mit GPS, da der Tacho nicht so richtig zuverlässig ist – die Nadel vibriert hoch und runter, ohne zuverlässig mitzuteilen, wie schnell man wirklich unterwegs ist. Die typisch lange Schnauze ist auch aus der Cockpit-Ansicht ein Highlight. Der Mittelteil ist erhöht, das Aluminium sorgfältig von Hand zurecht gehämmert. Wunderbar runde Formen. Elegant. Ein Jaguar eben.
Der E-Type ist Thalmanns einziger Oldtimer. «Die Menschen sagen mir oft: ‹Remo, du bist der einzige, den ich kenne, der nur einen Oldtimer hat. Aber du hast es richtig gemacht. Du hast nur einen, aber dafür einen tollen.› Mir reicht der Aufwand mehr als nur für einen Oldtimer, ich brauche nicht mehr. Und die Oldtimer gehen eben auch kaputt durchs Nichtfahren», erzählt Thalmann.
Die Geschichte um den E-Type Lightweight Low Drag beginnt in Arosa, führt nach Birmingham ins Vereinigte Königreich und dann wieder zurück nach Arosa. Aber der Reihe nach: «Mein Sohn Gian-Luca und ich haben öfters die Arosa ClassicCar besucht – als Fans. Einst sagte Gian-Luca: ‹Gell, du wärst auch gerne mal so einem Rennoverall unterwegs›. Ich erwiderte: ‹Ja, das würde mich tatsächlich reizen›. Darauf meinte er: ‹Jetzt wirst du 50 Jahre alt, jetzt kannst du doch so ein Auto kaufen.› Das war vor 12 Jahren. So begann ich die Fühler auszustrecken, machte mich auf die Suche.»
Über eine Kundin und dessen Schwiegersohn knüpfte Thalmann Kontakte nach England. Tauschte sich erst per Telefon und E-Mail mit einem gewissen Peter Sugden aus. Dabei wurde Thalmann vom Briten gut beraten: «Bei allem, was du besitzt, wirst du immer ein grosses Theater mit Ersatzteilen haben. Ausser bei Jaguars, da findest du immer welche. Von jedem Jaguarbestandteil gibt es meistens drei Versionen: eine Rennversion, eine Version aus England und eine Billigversion aus China.» Kurz darauf «begann ich zu Googlen und fand schliesslich den E-Type Low Drag im Internet. Und so machte ich mich mit Peter Sugden auf nach Birmingham, um den Rennwagen in echt zu sehen. Ich erinnere mich bestens daran: Ich öffnete die Türe des Autos und wurde sofort verhandlungsunfähig. Die Probefahrt führte uns über englische Landstrassen. Ich wusste gar nicht, dass ein altes Auto so laufen kann.» Es brauchte keine zweite Reise nach England. Thalmann war hin und weg, der E-Type Lightweight Low Drag ist sein erster und einziger Oldtimer seit jeher.
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden in Arosa. Die Sonne grüsst ins Fahrerlager. Es ist heiss im feuerfesten Rennoverall. Schwitzend heiss. Der rote 5-Punkt-Renngurt sitzt straff über dem blauen Overall. Erneut lassen wir den Motor knurren, verlassen tieftourig das Fahrerlager. Geduldig warten wir zwischen hellblauer AC Cobra, bordeauxroter Corvette C2 und dunkelblauem Obersee auf dem Aroser Postplatz bis der E-Type an der Reihe ist. Wir rattern vorbei an winkenden, lachenden, fotografierenden Zuschauern. Der Adrenalinspiegel steigt. Auf geht’s Richtung Langwies, zum zweiten Lauf, zum nächsten Abenteuer.