Der letzte Mohikaner
Erneut knatterts im Funkgerät. «Regen bei Posten 36. Durchsage an alle Piloten», heisst es. Schneiter nimmts zur Kenntnis, fungiert und dirigiert, was das Zeug hält. An diesem September-Samstag 2021 geht’s hektisch zu und her. «Das ist der Horror für mich, wenn der Zeitplan nicht stimmt. Ich bin nie nervös oder kann nicht mehr schlafen, weil ich diesen Job habe. Aber es ist manchmal nicht einfach als Rennleiter. Man will ja auch keine Fehlentscheidungen treffen.» Und wenn dann noch eine Katze dringend in den Notfall nach Chur muss, dann muss auch ein äusserst erfahrener Rennleiter wie Ueli Schneiter improvisieren. Aber das kann er. Und macht er auch in diesen hektischen Momenten wunderbar.
Ueli Schneiter kennt viele der Rennstrecken dieser Welt – von Hockenheim über Monza bis nach Dijon. War über die letzten Jahrzehnte in verschiedensten Funktionen tätig – vom Streckenposten bis zum Rennleiter. An der Arosa ClassicCar leitet er sein 47. und letztes Rennen. «Jetzt ist wirklich Schluss», sagt er überzeugend.
Arosa und Ueli Schneiter; die Erfolgsstory geht 15 Jahre zurück. Eigentlich wollte der Berner schon 2007 mit dem Rennsport aufhören, etwas anderes machen, das Leben in Indonesien geniessen, seiner zweiten Heimat. Wäre da nicht Koni Strittmatter gewesen, damals OK-Präsident des Arosa ClassicCar, der ihn überzeugte, doch in Arosa einen Boxenstopp einzulegen. «Auch Pascal Jenny und Markus Markwalder haben eine grosse Schuld, dass ich immer noch hier bin», scherzt Schneiter. Aber es passte halt einfach. Und so wurde aus einem kurzen Boxenstopp in Arosa eine langjährige Zusammenarbeit, die viel mehr als nur ‹Arbeit› war, «Ja, wir sind so was wie eine Familie geworden hier oben in Arosa. Bei Arosa Tourismus im Büro wurde ich immer von allen auf Händen getragen. Die Zusammenarbeit war fantastisch, dafür bin ich enorm dankbar», erzählt Ueli Schneiter.
Beginnt er in seinen Erinnerungen zu graben, da kommt schnell ein wunderbarer Werbespot für die Tourismusdestination zusammen: «Die 76 Kurven von Langwies nach Arosa sind ein absoluter Traum. Arosa ist für mich das schönste Bergrennen in Europa. Nur schon diese Aussicht. Beim Posten 10 siehst du das herrliche Viadukt. Dann der Wasserfall beim Posten 15, der ist fantastisch. Und dann noch Posten 52, eingangs Arosas: dort steht mein Bär – den habe ich vor sieben Jahren machen lassen und habe ihn in einer Nacht- und Nebelaktion aufgestellt.»
Schneiter hat viel Anteil daran, dass die Arosa ClassicCar heute so professionell daherkommt. «Ich bin nach Arosa gekommen und hatte nicht mal ein Blatt Papier von meinen Vorgängern erhalten. Wir wussten nicht, wo die 67 Posten für die 126 Marshals stehen müssen. So habe ich zu Fuss die Strecke abgelaufen. Wir haben alles neu aufgebaut, viel in die Sicherheit investiert», blickt er zurück.
Obwohl Rennleiter und damit hauptverantwortlich für das Rennen, ist Ueli Schneiter keiner, der das Scheinwerferlicht sucht. «Er steht gern im Team zusammen, wenn Lob auf ihn und die Crew herein prasselt. Er involviert die Menschen und geniesst das Team. Empathisch eben! Er hat den Event durch seine Persönlichkeit geprägt. Ueli, der Rennleiter: das ist sein Vermächtnis für die Arosa ClassicCar. Und er prägt den Event durch Akribie bei der Strecken Homologation und der Sicherheit. Das ist Gold wert für uns alle», erzählt Pascal Jenny, Präsident von Arosa Tourismus.
Markus Markwalder, OK-Präsident des Arosa ClassicCar, begleitet Schneiter fast seit den Anfängen: «Ich habe selten jemanden erlebt, der mit so viel Herzblut seinen Job macht. Es ist eindrücklich zu sehen, mit welchem Stolz und Elan Ueli über all die Jahre für diesen Event engagiert war.»
Wenn Arosa im September jeweils fest in der Hand der Oldtimer-Fans ist, beginnen für Ueli Schneiter seine wichtigsten vier Tage im Jahr. Sommer und Sonne – das wünschte man sich für diese Zeit. Doch Schneiter kennt sie, die herausfordernden Situationen auf 1800 Meter über Meer. «Da gab es Momente, wo der Nebel so dick war, du hast keine 50 Meter weit gesehen. Einmal kam ich am Morgen zum Hotel raus und hatte 4cm Schnee auf meinem Auto. In solchen Momenten musste dir dann einen ‹Schutt i Arsch› geben, dass du das Ding dann doch durchziehst.»
Überhaupt sei die grösste Herausforderung motivierte Leute zu finden, die mitanpacken. «Die junge Generation hat oft andere Interessen. Doch es gibt sich noch, die motivierten jungen Helferinnen und Helfer.» Eine, wie es die lernende Lynn Zanin ist. 2021 schaut sie Ueli Schneiter beim Start über die Schulter, packt mit an. «Alles», antwortet sie auf die Frage, was sie von einem wie Ueli lernen könne, «er ist motiviert, strahlt Lebensfreude aus und kümmert sich schlicht um alles. Jeder einzelne Fahrer und jede Fahrerin sind im wichtig. Das ist schön zu sehen.»
Ueli Schneiter begann seine ‹Rennkarriere› einst als Streckenposten, damals im Jahre 1981. Später wurde er Parkchef, dann Streckenchef. Zudem war er 25 Jahre tätig bei Auto Sport Schweiz im Komitee Strecke und Sicherheit. Während seiner Karriere prägte er grosse und bekannte Rennen, von Formel bis Tourenwagen, er hat das ganze Programm mitgemacht. In den guten Jahren 1992 und 1993 war er bis fünf Mal im Jahr als Rennleiter engagiert, «von Hockenheim über Monza bis weiss ich wohin. Ich habe wahnsinnig viel erlebt und tolle Menschen kennen gelernt.»
Zusammen mit namhaften Ehrenmitgliedern wie Peter Sauber, Clay Regazzoni, Sepp Siffert war er einst Teil des grössten Rennclubs der Schweiz – dem Formel-Rennsport-Club (FRC), bildete zwölf Jahre lang als Kursleiter die Streckenposten aus. «Und als ich endlich aufhören wollte, meldete sich damals eben Koni Strittmatter und ich sagte ‹Ja› zu Arosa.» Nun ist aber wirklich Schluss. Ueli Schneiter ist bald 75 Jahre alt. Er sagt adieu nach einer einzigartigen Karriere. Endgültig. Die Szene wird ihn vermissen. Er, der sowas wie der letzte Mohikaner ist – oder wie er selbst sagt: «So einen wie mich gibt’s in der Schweiz nicht mehr.»
Schneiters Riesenerfahrung im Motorsportbereich war und ist für Arosa unschätzbar wertvoll – auch für die kommenden Jahre, für seinen Nachfolger. «Dank Ueli gilt die Arosa ClassicCar als eines der sichersten Rennen überhaupt. Unsere Rennstrecke ist spektakulär und anspruchsvoll. Da kommen Uelis 40 Jahre Rennsporterfahrung noch so gelegen. Dank der guten Beziehung zum Tiefbauamt Graubünden wurden viele Gefahrenstellen verbessert, neue Leitplanken platziert oder neue Schikanen an gefährlichen Stellen eingebaut, um das Tempo der Strecke anzupassen. Für die Arosa ClassicCar war Ueli ein Glücksfall, denn die Sicherheit hat stets oberste Priorität», erzählt Markwalder.
Pascal Jenny erinnert sich ans erste ClassicCar mit dem damals neuen Rennleiter Ueli Schneiter, damals im Jahre 2007: «Für mich – als Hobby-Fan von ClassicCars – ist die erste Streckenöffnungsfahrt in ‹seinem› Rennleiter-Porsche unvergessen. Ueli hat mir gezeigt, was diese Strecke zulässt und was nicht. Das bleibt mir in Erinnerung und hilft mir, die ‹Möglichkeiten› auf der Strecke selbst einschätzen zu können und ein wenig in die Haut von Fahrerinnen und Fahrerin schlüpfen zu können.»
15 Jahre später bereitet sich Schneiter auf seine Dernière vor. Zum letzten Mal läuft er die Strecke persönlich ab, nimmt sich ein Bild der 76 Kurven von Langwies nach Arosa. Prüft kritische Stellen und lässt sie ausbessern, falls nötig. Agiert und dirigiert mit seinem Funkgerät unten am Start, winkt ein Auto nach dem anderen den Berg hoch. Ist der Mann für alle Fälle, löst kleine und grössere Probleme mit seiner ruhigen und überlegten Art. Kümmert sich einmal mehr väterlich um sein Team. Inspiriert Jung wie Alt. Und wünscht sich nichts mehr, dass auch diesmal alles gut über die Bühne geht. Ein letztes Mal.
Und dann, wenn der Sonntagabend naht, dann wenn der letzte Vorhang wirklich fällt, die 47. Rennleitung geschafft ist, dann «stehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge vor mein Team, die Fahrer, die Aroser – all die netten Leuten, die mir über die Jahre ans Herzen gewachsen sind. Wenn ich dann Adieu sagen muss, dann wird’s schon heavy.»