Das älteste Auto in Arosa
Ruedi Schawalder musste nicht lange überlegen, als ihm zu Ohren kam, dass ein La France Typ 12 zu kaufen sei – damals im Jahre 1995 im Luzernischen. «Der Verkäufer tat sich zwar sehr schwer, das Auto zu verkaufen, doch ich konnte ihn überzeugen», erinnert er sich. Den Zuschlag erhielt er schliesslich, «weil ich ihm klar gesagt habe: dieses Auto kommt zu mir, weil ich Fan davon bin und kein Spekulant». Das war überzeugend. Ohne einen Meter gefahren zu sein schlug Ruedi Schawalder zu. 26 Jahre und über 100 Rennen später ist der La France noch immer in seinem Besitz – «und ich habe noch immer denselben Plausch daran.»
Zu Beginn bedeutete der La France aber vor allem Arbeit. Wenn ich Wasser aufgefüllt habe, sah es fast schon wie der Springbrunnen in Rorschach aus. Die Lenkung klemmte, die Bremsen funktionierten kaum. Da habe ich begonnen, das Auto zu zerlegen und lernte es so kennen. Nur mit den eigenen Originalteilen habe ich es dann wieder zusammengebaut erzählt Schawalder. Mittlerweile fährt der La France auf drei unterschiedlichen Übersetzungen, Schawalder selbst hat neue Radkränze angefertigt. Dabei ist es aber nicht so einfach, einen Kranz zu wechseln wie bei einem Velo. Man muss die ganze Hinterachse verschieben. Dann stimmen aber die Gestänge der vier Bremsbänder nicht mehr – man muss alles wieder nach Gefühl einstellen.» Wer Schawalder zuhört, der merkt schnell: Da erzählt ein Mann voller Leidenschaft, Stolz und Ehrgeiz von seinem grössten Hobby.
Dabei fand der Ostschweizer seine Liebe zum Rennsport und Oldtimern erst über die Zweiräder – Klassiker wie Harley-Davidson, Sunbeam, BSA oder Moto Guzzi standen auf seiner Favoritenliste. Als er in den frühen 1990ern die Chance hatte, einen von nur 889 Stück gebauten Buick Marquette aus dem Jahre 1930 zu erwerben, da hats ihm auch den Ärmel für die Vierräder reingezogen. In Arosa fährt Schawalder wie zuletzt 2019 auf dem La France. Nur wenige Exemplare wurden produziert, keiner gleicht dem anderen. Ein Augenschein in weiss, mit Holzlenkrad, ohne Dach und Seitentüren. 104 Jahre alt. 6 Zylinder. 14.5 Liter Hubraum. 130 PS bei 1500 Umdrehungen pro Minute. Einen Tacho sucht man auf dem Armaturenbrett vergebens. Höchstgeschwindigkeit: «In kleiner Originalübersetzung läuft er etwa 90Km/h», so Schawalder. Mehr brauchts denn auch nicht. «Auf dem La France hast du das Gefühl, dass du auf Urgwalt sitzt – das macht einfach Spass. Da geht’s nicht darum, der Schnellste zu sein. Dafür drückst du praktisch jedem Zuschauer einen Smiley ins Gesicht.»
Und dann der Sound, beste Musik für den Autofan. «Den kannst du durch nichts ersetzen», schwärmt Schawalder, «er ist einzigartig. Du merkst sofort, dass da ein grossvolumiger, langhubiger Motor werkelt.» Der La France erinnert an längst vergangene Tage. An Zeiten, «wo du von weitem wusstest, was für ein Auto demnächst um die Ecke fährt.» Ein einzigartiges Hörerlebnis, wie bei einem fesselnden Konzert. «Wenn du dir Che & Ray live anhörst – zwei grossartige Pianisten – dann ist das unvergleichlich, wie die beiden in die Tasten greifen, dabei fast das Klavier zerlegen. Du kannst dir zwar auch eine CD der beiden kaufen und sie dir zu Hause anhören. Aber das ist eben nicht dasselbe», sagt Schawalder, «so ist es auch beim La France: ein solches Auto muss man erleben.»
Erlebt hat Ruedi Schawalder einiges hinter dem Steuer dieser Legende. Er erinnert sich und erzählt die eine oder andere Anekdote. «Mit dem La France gibt es immer Begegnungen mit Leuten – die Menschen sind interessiert, fragen alles Mögliche. Ich muss dann jeweils einfach ‹weglaufen›, sonst bin ich am Ende des Tages stockheiser vor lauter erzählen», witzelt er. «Einst hat mich eine in weiss gekleidete Frau gefragt, ob sie von der Schatzalp auf dem Beifahrersitz mitfahren könne. Ich sagte ihr, dass das vielleicht nicht die beste Idee sei in ihrer Aufmachung. Ihr war es egal, dass sie dabei dreckig werden könnte. Als wir unten ankamen, sah sie aus wie frisch gepflastert – und war dennoch überglücklich.»
Legendär ist auch der Auftritt des La France an der Red-Bull-Jungfrau-Stafette im Jahre 2010. Snowboarderin Manuela Peska, die übrigens in Arosa 2007 WM-Gold in der Halfpipe holte, begleitete Ruedi Schawalder damals als Beifahrerin. «Du wusstest nur, wo der Start und wo das Ziel ist, wie du von Visp nach Sion kommst, musstes du selber rausfinden», erinnert sich Schawalder. Irgendwann auf halber Strecke «hatten wir Formel-1-Fahrer Sebastian Buemi in seinem Bugatti vor uns», schwelgt Schawalder in Erinnerung, «da sagte ich: Einmal einen aktiven Formel-1-Fahrer überholen, das ist unsere Chance! Mit allem was der La France zu bieten hatte zogen wir an Buemi vorbei. Ein Riesengaudi.» Am Klausenpass hat der La France über all die Jahre viel Erfahrung
gesammelt. «Diese Rennen waren immer spannend – da heissts: 21 km lang Vollgas fahren – aufwärts und abwärts. Und das in einem Auto, das nicht die besten Bremsen hat. Einst nahm ich in der Not einen Beifahrer mit, der unbedingt schnell auf die Klausenpasshöhe musste. Sein Fazit, so viele ‹Vater unser› in so kurzer Zeit habe er noch nie gebetet. Denn als Beifahrer kannst du dich im La France nirgends festhalten. Als Fahrer gehört mir das Lenkrad. Als Beifahrer bleibt dir lediglich übrig, mit den Beinen etwas zu justieren, indem du gegen das Chassis drückst.»
Dabei hat es auch Schawalder als Fahrer im über 100-Jährigen La France alles andere als einfach. «Das Auto braucht deine volle Aufmerksamkeit. Du kannst nicht eine Sekunde nicht aufpassen. Der La France folgt jeder Rille, du bist permanent am Korrigieren.» Servolenkung? Die gabs damals noch nicht. Die Anfänge dieser revolutionären Technolgie
kamen erst 1926 auf, als Francis W. Davis, damals Ingenieur bei Pierce Arrow, sich der Forschung einer unterstützenden Lenkung widmete. Zu diesem Zeitpunkt war der La France 10 Jahre alt – verglichen mit der Lebensdauer eines Autos im Jahre 2021 ist das eine Ewigkeit. Fast 100 Jahre später fährt er noch immer über die Strassen dieser Welt. «Im Stand bringst du die Räder nicht rum», erzählt Schawalder, «einfach mal reinsitzen und paar Meter fahren funktioniert mit diesem Auto nicht.» Nach über 26 Jahren Erfahrung weiss Schawalder mittlerweile, wie er den La France bewegen muss. Es war ein rantasten, ein völlig neues Fahrerlebnis: Erst die Restauration, dann erste Probefahrten, dann die Rennen. Seit 1995 sass niemand anderes am Steuer des La France als Ruedi Schawalder selbst. «Meine jüngere Tochter fragt mich hin und wieder, wie viele Muskeln sie zulegen müsse, um den LaFrance fahren zu können. Ich hatte bislang den Mut bislang nicht, jemand anderes dieses Auto fahren zu lassen und diese Verantwortung zu übernehmen. Wenn da plötzlich jemand am Steuer sässe, der nie im Leben so ein Auto gefahren ist – diese Person würde erschrecken: Das Gaspedal ist in der Mitte, das Getriebe unsynchronisiert, die Bremsen nicht gut.» Und dann erst das Schalten mit so einem Gefährt: «Das Gaspedal hat man absichtlich in der Mitte platziert. Mit dem rechten Fussballen muss ich anbremsen, dabei den Fuss leicht schräg halten, damit ich mit dem restlichen Teil des Fusses im richtigen Moment aufs Zwischengas drücken kann. Im richtigen Moment kuppeln, Gang raus, Kupplungspedal los lassen, Zwischengas geben, wieder kuppeln, Gang rein.»
Mittlerweile hat Ruedi Schawalder den Dreh längst raus. Auch im Alltag beschäftigt er sich rund um die Uhr mit Autos, führt in Rorschacherberg seit über 30 Jahren eine Autogarage in zweiter Generation. Der La France ist nicht seine einzige Perle, aber die älteste. Was für automobile Träume hat einer wie Schawalder? Einer, der bald pensioniert wird, der in seinem Leben viel rum kam, 67 Länder besuchte, glücklich verheiratet ist, und zwei Töchter hat, die nach und nach in seine Fussstapfen (Oldtimer) treten. «Mein Traum ist es, mehr Zeit zu haben, die Autos fahren zu dürfen, die ich besitze. Ich bin ja relativ vernünfig, was Autos anbelangt. Ich hätte gerne mal einen schnellen Austin Healey – jetzt haben wir ‹halt› den kleinen Healey, den MG A. Ein tolles Auto. Und meine wunderschöne Moto Guzzi V50, die würde ich eventuell mal gegen eine Le Mans tauschen.»